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wurde den Müllern angelastet: "Die Störche haben Angst, dass der Müller ihnen die Eier stiehlt."
               Aufschlussreich ist ein Dialog zwischen Bauer und Müller im "Ambraser Liederbuch" aus dem
               Jahr 1582: Bauer: "Müller, hast mir das Mehl bereit? Du hast mirs halb gestohlen, gestohlen."
               Müller: "Du lügst, du lügst, du grober Bauer! Es ist in der Mühlen verstoben, verstoben!"


               Das natürliche Phänomen, das man heute "Schwund" nennt, machte auch den ehrlichen Müllern
               zu schaffen, und für den Bauern, der Korn und Mehl eins zu eins umrechnete, war es vollends
               unerklärlich, da er den für ihn komplexen Mühlbetrieb nicht durchschaute. Dass der Müller aber
               den Schwund zu seinen Gunsten vermehren konnte, den Verdacht hatten alle Bauern - manchmal
               wohl auch zu Recht.

               Um den Müller vor sich selbst zu schützen und den Unmut der Bauern zu sänftigen, war den
               Müllern an vielen Orten verboten, Hühner zu halten oder Schweine zu mästen, oder die Anzahl
               der Tiere wurde begrenzt. Denn davon waren alle überzeugt: "Der Müller hat die fettesten
               Schwein, die im ganzen Lande sein."


               Doch der heillos schlechte Ruf des Müllers ließ sich noch steigern: Es gab Mühlen, die zusätzlich
               ein Schankprivileg bekamen. Das ist vielen Müllern von ihren Lehnsherren wohl eher aufgedrängt
               worden, der sicheren Einnahmen für den Herrn wegen. Im Gefolge des Alkoholausschanks gab es,
               teils gemunkelt, teils verbürgt, in den oft abgelegenen Mühlen auch eine Mühlenprostitution. So
               konnte es wohl geschehen, dass ein Bauer nicht nur mit zu wenig, sondern gänzlich ohne Mehl
               nach Hause kam, weil er es auf die eine oder andere Weise verlustiert hatte.

               Ob Schutzbehauptung der Mahlgäste oder erfunden von doppelt betrogenen Bauersfrauen, immer
               öfter war die Rede von "Teufelsmühlen", die in Sagen fortleben. Dass immer mal wieder eine
               Mühle durch damals unerklärliche Mehlstaubexplosionen in Schutt und Asche gelegt wurde, trug
               dazu bei, solche Unglücke entweder als Werk Beelzebubs oder als Zorn des Gerechten zu deuten.


               Im Licht der Aufklärung tritt endlich auch der Müller aus seiner in der Regel unverschuldeten
               Unehrlichkeit. Der "Müller Arnold" von Sanssouci darf sich in einer Anekdote sogar mit dem
               Alten Fritz anlegen. Vor allen in den Städten entstehen dann auch hoch achtbare Müllerzünfte. In
               der Romantik schließlich wandelt sich das Müllerleben zur Idylle. Joseph von Eichendorff macht
               den Müllerburschen zum Sinnbild unbeschwerten Wanderlebens ("Aus dem Leben eines
               Taugenichts"). Und im Gedichtzyklus "Die schöne Müllerin" von Wilhelm Müller, vertont von
               Franz Schubert, ist die doppelte Unehrlichkeit, die dem Müller anhing, in weite Ferne gerückt.
               Eichendorffs Verse "In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad" sind die Verdichtung
               bürgerlich-romantischer Poesie schlechthin. Sein Mühlenlied wurde 27 mal vertont.


               Der politische Kampf des Bürgertums und der technologische Fortschritt bringen dann endgültig
               das Ende der so genannten "Müllerfreiheit". Mit der Verfassung des Deutschen Reiches 1871
               fallen die letzten Bann- und Zwangsrechte. Die großen Dampfmühlen brauchen keine rauschenden
               Bäche mehr und keinen launischen Wind. Die Müller suchen sich andere Berufe, nur die Namen
               bleiben.

















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