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keine "ehrbare Dirne" ehelichen. Noch im Jahre 1686 drohten in Hamburg die Reepschläger
(Seiler) einem ihrer Meister, der eine Müllerstochter zur Frau nehmen wollte, den Ausschluss aus
ihrer Zunft an. Der Meister rief den Rat der Stadt an. Und der erkannte - ganz fortschrittlich -
diesen Teil der Zunftsatzung als nicht rechtsverbindlich und ordnete die "Zulassung" der
Müllerstochter an.
Noch 1652 gab es im Herzogtum Braunschweig die Anweisung, den neu geborenen
Müllerskindern die "Unehrlichkeit" in den Taufschein einzutragen. Und nach wie vor galt in allen
deutschen Landen die Bestimmung, dass die Müller den Unehrlichsten von allen behilflich sein
mussten. Sie hatten dem Henker bei einer Hinrichtung die Galgenleitern zu stellen.
Wie kein anderer Beruf saß der Müller also in vielen Zwickmühlen. So war auch der
"Mühlenfriede" ein für ihn zweifelhaftes Privileg. Mühlenfriede bedeutete: Ein Übeltäter, der sich
in eine Mühle geflüchtet hatte, durfte nicht mit Gewalt herausgeholt werden. Diese Bestimmung
hatte einen ganz praktischen Grund: Die Furcht, die Mühle könnte durch die Gewalthandlung
Schaden nehmen. Wie der Müller aber mit dem Galgenvogel in seinem Haus zurechtkam, war
seine Sache.
Damit es auch vor der Mühle friedlich zuging, hatte schon der "Sachsenspiegel" um 1230
bestimmt, dass alle Mahlgäste (die Müllerkunden) strikt nach der Reihenfolge des Ankommens
bedient werden mussten: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" ist eine der wenigen mittelalterlichen
Rechtsbestimmungen, die noch heute sprichwörtlich ist.
Diese gerechte Behandlung war vor allem deshalb wichtig, weil der "Mahlzwang" den Bauern
meist lange Wege aufnötigte. Im Zwang- und Bannrecht des Feudalismus konnte nicht jeder
Müller nach Lust und Laune eine Mühle aufmachen. Der Lehnsherr vergab die Mühle als Privileg,
und der "Mühlenzwang" bestimmte, dass alle seine Untertanen ausschließlich in der landesherrlich
privilegierten Mühle mahlen lassen mussten. Von jedem Scheffel Mehl forderte der Lehnsherr
seinen Anteil. Für das Mahlen wurde entweder der Mahlgroschen bezahlt, in der Regel aber
behielt der Müller eine bestimmte Menge Mehl ein, Molter, Malte oder auch Metze genannt.
Davon lieferte er den größten Teil an den Landesherrn ab, einen Teil behielt er als Mahllohn für
sich.
Diese Regel, so einfach sie scheint, so verhängnisvoll war sie für den Ruf des Müllers.
Jahrhundertelang galt der Müller als "der größte Dieb im ganzen Land", weit vor den Webern und
Schneidern, die auch im Verdacht standen, mit dem ihnen anvertrauten Garn und Tuch nicht
ehrlich umzugehen. Denn Groll und Wut des Bauern, der mit seinem Korn zur Mühle ging und
nach seiner Meinung immer mit zu wenig Mehl nach Hause kam, richteten sich nicht gegen den
Landesherrn, der ihn eigentlich schröpfte, sondern gegen den Müller, von dem er sich übervorteilt
fühlte.
Was nun schwerer wog, das Misstrauen der Bauern oder die Neigung des Müllers, zu ernten, wo
er nicht gesät hatte, der Leumund des Müllers war unwiderruflich dahin. Das machte es ihm
vollends unmöglich, den Makel seines Standes loszuwerden. Den schlechten Ruf, ein Dieb zu
sein, teilte er mit Berufsgenossen in anderen Ländern. So erzählt der französische Dichter
Alphonse Daudet in seinen "Geschichten aus der Provence", dass der Pfarrer für die Beichte des
Müllers einen ganzen Tag anzusetzen pflegte, während die übrigen Pfarrkinder an vorherigen
Tagen rudelweise absolviert wurden. Ungezählt sind die Spottverse des Volksmundes: "Was ist
des Müllers größtes Glück? Dass die Säcke nicht reden können." "Die Müller hängt man nicht wie
andere Diebe, sonst würde das Handwerk untergehen." "Der Müller hat zwei Scheffel, einen zum
Ein-, den anderen zum Ausmessen."
Auch die Tatsache, dass Störche nicht auf Mühlen nisten - wer kann es den klugen Vögeln
verdenken, dass sie Gebäude meiden, die noch lauter klappern als sie, und das Tag und Nacht -,
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